Moderne Flagellanten. Modern?

von André Freud:

Flagellanten

Man kennt es aus dem Geschichtsunterricht, oder aus „Der Name der Rose“: Geißler, Flagellanten, Büßer. Verwirrte Menschen, verlorene Seelen, die mit dem Leben, mit ihrem Leben nicht zurechtkamen, fortliefen, sich in Gruppen zusammenfanden, von Stadt zu Stadt und von Dorf zu Dorf ziehend, bettelnd (oder auch mal plündernd), die sich selbst den blanken Rücken peitschten, bald aber auch jene, die es ihnen nicht gleichtun wollten, peitschten, und dabei in die „siebenschwänzige Katze“ noch Knoten einflochten, damit es besonders schmerzte.

Und was haben wir heute? Wo sind sie hin, die Flagellanten? Ausgestorben sind sie nicht. Natürlich schlagen sie sich auch nicht mehr öffentlich selbst; das ist zu sehr aus der Mode. Mit Gott und Religion hat ihr Wüten heute auch nicht mehr unbedingt zu tun (damals wohl auch eher wenig); auch das ist nicht mehr der zeitgemäße Bezugsrahmen.

Heute sind es die, die erst sich selbst und dann allen anderen die Freude am Leben vergällen wollen. Wer sich des Lebens erfreut, ist ein schwacher Mensch, und das, was den Menschen Freude macht, ist des Satans! Beziehungsweise, in heutiger Diktion: ist ethisch verwerflich.

Als Mann einer Frau nachzusehen – ethisch verwerflich. Eine Zigarre zu rauchen – ethisch verwerflich. Mit dem Auto zu fahren – ethisch verwerflich (es sei denn, es ist eine Minidose ohne CO2-Ausstoß). CO2 ist verwerflich (dabei ist kein Leben auf der Erde ohne CO2 möglich). Am Veggie-Day ein Schäufele zu essen – verwerflich. Abends mal ein Viertel Wein mehr zu trinken als vom Arzt verordnet – verwerflich. Eine Flugreise zu machen – verwerflich (es sei denn, die Reise geht zum Weltklimagipfel nach Südafrika oder so). Eine Tüte Chips zu essen – ethisch verwerflich. Homöopathische „Heilmittel“ abzulehnen – ethisch verwerflich (das kostet mich jetzt die Zustimmung mindestens einer treuen Leserin…). Nicht glücklich zu reagieren, wenn einem im Café eine Kampfmutter dreimal ihren Kinderwagen in die Hacken rammt – ethisch verwerflich. Sich etwas anzuschaffen, was man zwar nicht dringend braucht, aber eben einfach haben will – ethisch verwerflich. Nicht glücklich darüber zu sein, wenn das eigene Kind in eine Schule kommen soll, in der Bildung „vergesellschaftet“ wird, statt daß die Kindern nach ihrer Leistungsfähigkeit gefördert werden – verwerflich. Einmal für einen Espresso nach Rom zu fliegen – ethisch verwerflich. Eine andere Meinung zu vertreten als die Gutmenschen – ethisch verwerflich. Auszubildende als Lehrlinge zu bezeichnen oder die Agentur für Arbeit als Arbeitsamt: verwerflich. Gegen ein Übermaß an Umverteilungs-Ungerechtigkeit zu sein – verwerflich. Die SEDPDSLinkspartei nicht mit romantischer Verklärung zu betrachten, sondern als die aus Ruinen auferstandenen Stasi-Gründer und Altstalinisten – verwerflich. Die Tomatenmarkdose nicht gründlich zu spülen, bevor man sie brav in den gelben Sack gibt – verwerflich. Einen Pelz zu tragen – schlimmstens verwerflich.

Eigentlich ist in den Augen mancher, die bei uns viel zu viel öffentliche Wahrnehmung erfahren, so vieles verwerflich, was Freude bereitet, was einfach mal Spaß macht, was unvernünftig ist – und auch vieles, was an sich gut und richtig ist, aber die Diktatur des angeblich guten Gewissens (der anderen) stört.

Erstaunlich ist am Menschen als solchem immer wieder, daß er es wohl nicht schafft, ohne solche irrwitzigen Moden auszukommen. Die Menschen wechseln leicht mal das Objekt ihres Fanatismus – aber sie geben nicht ihren Fanatismus auf. Das Objekt, auf das er sich bezieht, mag wechseln. Aber er selbst – er bleibt.

Man erkennt sie daran, daß sie immer anderen vorschreiben wollen, wie man zu leben hat. Ich weiß nicht wirklich, was diese Menschen treibt; es ist mir in gewisser Weise auch gleichgültig, denn man läßt sich schon fast zu weit auf sie ein, wenn man das intensiv erforscht.

An den falschen Mitteln erkennt man sie, immer und überall. Es gibt sie in allen politischen Spektren, es gibt sie in alt und in jung, in männlich und in weiblich. Was ihnen gänzlich abgeht, ist Toleranz. Die Rede ist nicht von dümmlicher Toleranz, die eher unter dem Motto „is mir doch wurscht“ zu subsumieren ist – die Rede ist von wirklicher Toleranz. Die steht eher unter dem Motto: „Es paßt mir zwar gar nicht, was Du da tust. Aber weil Du ein freier Mensch bist wie ich, hast Du das Recht, Dein Leben nach Deiner Façon zu gestalten, und ich habe kein Recht, Dir Vorschriften zu machen“. Leben und leben lassen, die Libertas Bavariae – ist das denn so schwer?

 

Bild: Flagellanten, Holzstich aus dem 15. Jahrhundert, Public Domain, aus: http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Flagellants.png